Intellektuell, häufig vergnügt, immer einzigartig

Intellektuell, häufig vergnügt, immer einzigartig

Nein: Zimperlich war er gewiss nicht. Nicht mal gelegentlich. Alfred Grosser hat die Wahrheit geliebt. Das bringt sein Lebenswerk auf den Punkt. Am Mittwoch ist er in Paris im Alter von 99 Jahren gestorben. Er war über 20 Jahre Kolumnist der Aachener Zeitung.

Er war meinungsfreudig, sagte seine Ansichten offen heraus, subjektiv, nichts im Ungefähren lassend. Er bekämpfte Klischees und Vorurteile, wo und wann immer das möglich war. Er konnte das. Und wie! Kurzum: Er hielt sich nicht am faden „Sowohl-als-auch-Abwägen“ auf. Er sagte, was ist. Und er schrieb, was er dachte. Für falsche Kompromisse eignete er sich nicht.

Eleganz der Sprache

Zahlreiche Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender haben sich in vielen Jahren und teilweise über Jahrzehnte diesen klaren Geist als – im wahrsten Sinne der ansonsten eher tarifrechtlich definierten Wortkombination – „freien Mitarbeiter“ geleistet. Und das war und ist eine Leistung, die Alfred Grosser in der Brillanz der Analyse, der Eleganz der Sprache und der Dominanz völliger Unabhängigkeit immer wieder auszeichnete. lhn zu lesen, war stets ein Gewinn für Erkenntnis und Debatte, sein Esprit wirkte ansteckend.

Sein grandioses hohes Renommee galt rechts- wie linksrheinisch, also in Deutschland wie in Frankreich gleichermaßen. Dabei wurde er von den vermeintlich Mächtigen oder zumindest Tonangebenden in den politischen Kreisen beider Länder nicht unbedingt geliebt, sondern in allem Ernst respektiert und als kritischer Geist gewürdigt, jedenfalls von den intelligenteren Protagonisten der politischen Klasse.

Ein unabhängiger Kopf

Offenherzig, intellektuell, häufig vergnügt, immer einzigartig: Das traf für Alfred Grosser zu, weniger für die Politik der Deutschen und der Franzosen in den letzten Jahren; deshalb vertrugen sich die Mentalitäten des Publizisten und der Politik eher nicht. Und das war gut so. Seine ständige, ziemlich rastlose Tour d’Horizon durch die politischen Debatten der letzten Jahrzehnte kann man in Stichworten knapp so skizzieren: beobachten, feststellen, vergleichen, analysieren, Anstöße geben, diskutieren. Alfred Grosser hatte einen unabhängigen Kopf, dem jede Form von Mainstream egal war. Alles Dogmatische und Ideologische war ihm zuwider.

Für die deutsch-französische Aussöhnung hat der Publizist, Politikwissenschaftler, Soziologe und Journalist Enormes geleistet. Der 1925 in Frankfurt am Main geborene Grosser emigrierte 1933 mit seiner Familie nach Paris und besaß seit den 30er Jahren die französische Staatsbürgerschaft. Er studierte, lehrte, schrieb und kommentierte in Frankreich, und er schrieb und kommentierte in Deutschland, und vor allem hat er in beiden Ländern Vorträge gehalten, gerne nach seinem Prinzip, in Frankreich kritisch den Franzosen den Spiegel vorzuhalten und in Deutschland den Deutschen. Das war die besondere und extraordinäre Form von „Ausgewogenheit“ à la Grosser. Man darf ihn gerade deshalb über seinen Tod hinaus einen einflussreichen und bedeutenden Wegbereiter der deutsch-französischen Verständigung nennen.

Sorge um Kultur und Qualität

Das implizierte sein intellektuelles, wissenschaftliches und publizistisches Credo für Europa. Da beschönigte er nichts, da nannte er ohne jede falsche Rücksicht Fehlentwicklungen beim Namen, da verschwieg er nicht manche Bedenken und manchen Rückschlag. Das bezog er nicht nur auf Politik und Wirtschaft, sondern auch auf die Akteure in den bürgerlichen Gesellschaften. Also auf uns alle. Seine Themen lauteten deshalb auch: Sorge um Kultur, um Qualität, um Solidarität im fairen Umgang miteinander, um das soziale Gewissen der deutschen und französischen und europäischen Bevölkerung.

Ein großes Lebenswerk

Alfred Grosser war immer ein bisschen anders, überraschend, unberechenbar, unbestechlich in seinem so oft unbequemen Urteil. Seine Bewertungen waren eben relevant. Als Kolumnist für „Le Monde“ lag ihm daran, diese Werte publizistisch zu vermitteln. Er schrieb für „Ouest-France“, die größte französische Tageszeitung. Und vor allem hatte er, der Atheist, seit 1955 eine ständige Kolumne in der katholischen Tageszeitung „La Croix“. Den Aufsichtsrat des „L’Express“ verließ er aus Protest gegen unausgewogene Berichterstattung über den Nahost-Konflikt. Der Kolumnist der „Aachener Zeitung“ war ein wirklich Großer mit einem richtig großen deutschen, französischen und europäischen Lebenswerk.

Auf dem Aachener Katschhof: Beim Stadtrundgang mit dem langjährigen AZ-Kolumnisten.

Von 1996 bis 2018 hat er für die „Aachener Zeitung“ regelmäßig und exklusiv für Deutschland geschrieben. Im Laufe dieser Jahre ist eine persönliche Freundschaft zwischen uns entstanden. Zu verschiedenen Gelegenheiten war er in Aachen. Die persönlichen Begegnungen und Gespräche mit ihm waren immer ein Festtag. Ich werde diesen wunderbaren Menschen sehr vermissen.

Viele Auszeichnungen und zahlreiche Bücher

Alfred Grosser wurde am 1. Februar 1925 in Frankfurt am Main geboren. Seine jüdische Familie emigrierte 1933 auf der Flucht vor den Nazis nach Frankreich. 1937 erhielten Alfred Grossers mittlerweile verwitwete Mutter und damit auch er die französische Staatsbürgerschaft. Er studierte zunächst Germanistik, dann Politologie. Ab 1956 wirkte er als Lehrbeauftragter, dann ordentlicher Professor am Pariser lnstitut d’études politiques (Sciences Po) in Paris.

Der Publizist ist vielfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1975), dem Grand Prix de l’Académie des Sciences morales et politiques (1998), dem Deutsch-Französischen Medienpreis (2012) und dem Theodor-Wolff-Preis für sein Lebenswerk (2013). Er war Großoffizier der Ehrenlegion und Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern und Schulterband. In seinem Namen wurden ein Lehrstuhl (1993 Paris/Nancy) und eine Gastprofessur (2009 Frankfurt am Main) eingerichtet.

Fotos: BM, Aachener Zeitung

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