
Das Leerstück.
Entgeistert sind die einen, begeistert die anderen, dazwischen: Ratlosigkeit, ungläubiges Staunen über das, was „passiert“ ist. Passiert? Nein, da ist – in zwei Abstimmungen mal mit, mal ohne Erfolg – ein bis dahin für kaum möglich gehaltener Vorgang wissentlich geduldet oder sogar absichtlich herbeigeführt worden. Rechtsextreme als Mehrheitsbeschaffer.
Nun stecken die einen wie die anderen, stecken wir alle in einem Dilemma, das, um irgendwann irgendwie daraus wieder herauszukommen, vor allem eines benötigt: kühlen Kopf, den es zu bewahren oder den es wieder zu entwickeln gilt. Für unsere Gesellschaft, für unsere Demokratie, für unseren Umgang miteinander und für unsere Haltung und unseren Anstand. Und über allem steht für alle: Respekt.
Klare Linie braucht Geduld und Fingerspitzengefühl und eben nicht den forschen Marsch durch die Parlamente und die verlockenden Bühnen des Populismus‘. Plötzlich sitzen wir mittendrin im politischen Klimawandel, dem Politiker wie Friedrich Merz, aber auch der nach drei Jahren des Schweigens nun im permanenten Wahlkampfmodus agierende Olaf Scholz derzeit nicht gewachsen sind.
Der Kollaps
Symbolpolitik hat keine nachhaltige Kraft, bei Merz & Co. reichte sie nicht einmal für zwei Abstimmungen. Auch zu stark inszenierte Empörung und Kompromissverweigerung helfen uns nicht weiter. Wenn Politik nicht mehr in der Lage ist, Ankündigungen und Versprechen konsequent auf den Weg zu bringen, erleidet sie den Kollaps, den in dieser Woche alle erlitten haben (außer der feixenden AfD).
Die Stärke der AfD steckte schon immer in dieser fatalen Schwäche der anderen Parteien, bei Merkel, bei der Ampel und jetzt bei allen Kompromissunfähigen der vergangenen Tage. Wenn Politik und die Medien – ja, natürlich auch die! – sich nicht zusammenreißen, werden immer mehr politische Entscheidungen zur permanenten Konfrontation mit den Unverstandenen und Ungefragten, die für die Populisten beliebte Zielgruppen geworden sind – mit in jeder Umfrage zählbarem Erfolg.
Die Ausreißer
Am Ende dieser missratenen Operette an Bedeutungsschwere und strategischer Unmündigkeit leidenden Polit-Profis gibt es ein tatsächliches Drama: den Zustand der Gesprächsfähigkeit unter Demokraten. Die Union ist in eine selbstverschuldete Falle geraten, SPD und Grüne haben wenig Dialogbereitschaft gezeigt, die FDP ist an ihrer plötzlich entdeckten Rolle des Vermittlers gescheitert. Summa summarum bleibt zu konstatieren: Diese Woche hat gezeigt, wie sehr in einer Belastungssituation unsere politische Kultur verslumt. Das waren keine verbalen Ausreißer durchgeknallter Social-Media-Aktivisten oder rechtsextremer Björns und Höckes. Daran waren Führungskräfte demokratischer Parteien federführend beteiligt.
Merz hat zum Teil berechtigte inhaltliche Positionen in einem desaströsen Hauruck-Verfahren zur gemeinsamen Abstimmungssache mit der AfD gemacht, statt mit SPD, Grünen und FDP das wichtigste und erfolgreichste Instrument der Demokratie zu praktizieren: den Kompromiss. Und alles, was darüber aus Sicht der Union hinausgegangen wäre, hätte er doch in Seelenruhe am 23. Februar bei der Bundestagwahl mit großen Erfolgsaussichten zur Entscheidung stellen können; denn vor diesem Wahltermin wird ohnehin nichts geändert, da konnte und könnte der Bundestag beschließen, was er wolle. Aber an diesen 23. Februar ist – zumindest vorübergehend – Schluss mit der ewigen Drumherum-Rederei. Dann entscheidet die freie und geheime und direkte Wahl und gibt, so oder so, eine Richtung vor.
Die Chancen
Nach dieser Wahl werden sich die aufgeregten Streitzentren annähern müssen, wenn sie Deutschlands Ruf in Europa und der Welt nicht komplett aufs Spiel setzen wollen. Dann werden CDU, CSU, SPD, Grüne, vielleicht auch die FDP darüber nachdenken müssen, welche für unser Land relevante gesellschaftliche und politische Allianz noch möglich ist. Welche Avantgarde aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Technologie und Kultur noch in der Lage ist, den Aufschwung zu einer lebendigen Demokratie, zu Mut und Perspektive, zu Selbstbewusstsein und zu notwendigem Handeln zu schaffen. Vor allem: zu Chancen! Mit klarem Kurs, mit Zuverlässigkeit und mit Entscheidungsfreude. Gegen Bürokratie, gegen Verallgemeinerung und vor allem gegen jede Form von Ideologie.
Und bei allem Verständnis für notwendige Veränderungen in der Migration darf man sich nicht die politischen Sinne für das Sinnvolle, rechtlich Machbare und zügig zu Realisierende rauben lassen. Die Republik liegt noch nicht in Trümmern. Der Mangel an Kompromissbereitschaft kann auch ein Weckruf sein, die Auseinandersetzung auf dem Centre-Court des Wahlkampfes mit mehr Respekt zu führen.
Der radikal veränderte Lebensrhythmus der globalisierten Gesellschaft hat dem extremen Populismus Tür und Tor geöffnet, weil die demokratischen Parteien nicht hingehört, nicht zugehört, nicht aufgepasst haben. Sie haben die neue Ordnung verschlafen, jungen Menschen keine Sicherheit vermittelt und keine Perspektive geboten, und sie haben – das ist sozusagen das Etikett ihrer Mittelmäßigkeit – sich auch diesmal wieder zu sehr aufs lächerliche Plakatekleben aus der Zeit des 19. und 20. Jahrhunderts konzentriert: auf Großflächen und in ihrer Rhetorik.
Die ausgedünnte Mitte
Sie haben nicht wahrgenommen, dass wir uns – weltweit –in Kulturkämpfen befinden, die alte Wertschöpfungsketten zerstört haben. Die Mitte wird ausgedünnt. Das zu begreifen, hätte man schon vor Trumps Wiederwahl wissen müssen. Der Schaltplan unserer Gesellschaft ist längst umgestellt worden. Niemand hat in Deutschland in den letzten drei oder vier Wahlkämpfen die neue Informations- und Kommunikationstechnik zur zentralen Botschaft gemacht. Auch jetzt nicht. Stattdessen: ein unsäglicher Streit um Migration. Selbst Themen wie die Ukraine, Trump, die EU, Wirtschaft und Bildung haben diesen Wahlkampf nicht wirklich überlebt.
Zu lange war man zufrieden, dass es irgendwie weitergeht. Bei Merkel, bei Scholz, bei all den anderen. Sprache und Themenwahl, letztlich auch die Personalauswahl unserer Parteien haben zu oft mit der Realität unserer Gesellschaft nicht mehr viel zu tun. Das Hin und Her dieser Woche war ein Lehrstück für den Zustand unserer Republik. Pardon, ein Schreibfehler: ein Leerstück.
3 Gedanken zu „Das Leerstück.“
Danke für diesen sachlichen und differenzierten Kommentar und die damit verbundene Einschätzung. Hoffentlich nehmen sich viele die Zeit, diesen zu lesen. Das Thema ist nämlich nicht in drei Sätzen erschöpfend behandelt.
Ich verstehe die ganz allgemeine Anklage an „die Politik“ nicht, ich möchte sogar konkret widersprechen:
Merz hat bewiesen, dass er nichts kann (oder will) von dem, was ein Kanzler können muss. Er kann nicht einmal Oppositionsführer. Als Beobachter kommt man sich vor wie in einer Aufsichtsratssitzung, in der der Vorsitzende anordnet. Und wenn nicht gefolgt wird, schlägt er mit der Faust auf den Tisch. Und das funktioniert in Aufsichtsräten vermutlich in der Regel auch.
Aber so geht Politik nicht. Politik lebt nicht nur vom Kompromiss, vom gegenseitigen Zuhören, von gegenseitigem Respekt, sondern sie ist sogar (Dauer-)Kompromiss. Das hat Merz nicht verstanden und offenbar will er es auch nicht verstehen.
Ich empfehle ihm die Rückkehr in die von ihm offenbar sehr geliebten Strukturen. Dort kann er anordnen und zur Not mit der Faust auf den Tisch schlagen. Mehr will (oder kann?) er ja offenbar nicht.
Ich bin nicht ganz einverstanden. Merz wollte mit dem Kopf durch die Wand. Er ist undiszipliniert und arrogant. Sich selbst ein Bein zu stellen, ohne Not. Wer will so einen solchen Kanzler?
Es ist nicht zu übersehen, was die Zivilbevölkerung davon hält. Nein, unsere Demokratie ist nicht tot, sie ist sehr lebendig.
Kanzler. Da ist der trockene Scholz, der besonnen und abwartend agiert der Bessere.
Es ist im übrigen nicht zu übersehen, was die Zivilbevölkerung davon hält. Unsere Demokratie lebt noch.