„Das Desaster des Westens“

„Das Desaster des Westens“

Navid Kermani hat ein neues sehr lesenswertes Buch geschrieben: „Das Alphabet bis S“. Darüber habe ich mit dem Schriftsteller in seinem Kölner Büro gesprochen. Eine Rezension erscheint am kommenden Montag (9. Oktober) in der Aachener Zeitung und danach auch hier. Heute hat die AZ bereits das Interview veröffentlicht, das ich mit Navid Kermani geführt habe. Er äußert sich darin auch zu aktuellen politischen Fragen mit dem Schwerpunkt Europa. Auszüge zu diesem Themenbereich:

In vielen Kapiteln finden wir Beziehungen zu aktuellen Entwicklungen, zur Ukraine, zu Russland, Europa, den USA, zu geopolitischen Phänomenen. Wie empfinden Sie die heutige Situation – mit Sorge, Skepsis, Ratlosigkeit gegenüber der Politik?

Kermani: Ich beschreibe in dem Buch viele Sorgen über Dinge, die inzwischen eingetreten sind. 2018 hatte man das Gefühl: Es passiert etwas. Dann kam die Pandemie, kein Naturereignis, sondern vom Menschen gemacht. Sie ist eine Folge des Umgangs mit der Natur. Die Pandemie hat auch in unserer Wahrnehmung vieles stillgelegt. Wir haben von dem, was anderswo, etwa in Afrika, in Osteuropa passiert, nicht mehr viel mit bekommen. Wir waren nur noch mit uns selbst beschäftigt.

Und nun haben wir den Krieg.

Kermani: Die Lage finde ich sehr bedrohlich. Wir haben jetzt Krieg mitten in Europa. Es deutet wenig daraufhin, dass er bald zu Ende geht.

Äußern sich Intellektuelle zu selten ?

Kermani: Ich versuche schon mich einzubringen, nicht jeden Tag, nicht jede Woche und auch nicht in Talkshows, sondern gelegentlich. Das wird vielleicht anders wahrgenommen und verbraucht sich nicht hoffentlich nicht so sehr. Der Krieg in der Ukraine treibt mich sehr um. Er hat viel mit unserem Versagen in Afghanistan zu tun, mit der Flucht aus dem Land ein halbes Jahr zuvor. Dieses Desaster des Westens vor aller Welt hat Putin ermutigt, diese Schwäche, diesen moralischen Bankrott des Westens, auszunutzen. Ich bin sicher, dass Putin nicht mit der Entschlossenheit des Westens gerechnet hat, der Ukraine beizustehen.

Quelle: Aachener Zeitung, 5. Oktober 2023
Quelle: Aachener Zeitung, 5. Oktober 2023

Wie empfinden Sie den Umgang mit diesem Krieg in unserer Gesellschaft, etwa bei der Frage nach Waffenlieferungen?

Kermani: Es ist manchmal sehr schwer, im Freundeskreis darüber zu reden, weil die einen vollkommen überzeugt sind, dass es so sein muss, und die anderen verstehen die Weltsicht der anderen nicht mehr, verstehen nicht, wie man für Waffenlieferungen sein kann und umgekehrt.

Wie denken Sie darüber?

Kermani: Ich war bei Kundgebungen für die Ukraine, habe mich in dem Sinne öffentlich geäußert und die offenen Briefe sehr stark kritisiert, die die Ukraine zur Aufgabe aufgerufen haben. Ich bin für Waffenlieferungen, aber was mir fehlt, ist eine Diskussion über das Wozu und das Wohin. Die unheilvolle Diskussion in Talkshows „entweder Verhandlung oder Waffenlieferung“, ist falsch. Ohne Waffenlieferungen gäbe es keine Ukraine mehr, die noch verhandeln könnte. Umgekehrt deutet aber auch leider wenig darauf hin, dass die Ukraine alle besetzten Gebiete militärisch befreien wird. Also muss es darum gehen, dass die Ukraine in eine Position kommt, von der aus sie überhaupt aussichtsreich Verhandlungen führen könnte. Im Vergleich zum Frühjahr 2022, als die russischen Truppen vor Kiew standen, ist da  schon enorm viel erreicht, das vergisst man oft. Denn wo auf der russischen Seite eine Armee kämpft, kämpft auf der ukrainischen Seite ein ganzes Volk. Aber parallel zu der militärischen Gegenoffensive muss endlich entschlossen auf ein Kriegsende hingearbeitet werden. Das geschieht nicht ausreichend, soweit ich sehe. Etwa muss es, wie viele Experten seit langem fordern, neben der militärischen auch eine politisch-strategische Kontaktgruppe geben, unter Einschluss der Ukraine, um Friedenslösungen vorzubereiten.

Die Folgen in Europa sind verheerend.

Kermani: Sie führen zu einem Niedergang des gesamten Kontinents. Dass Macron mit Blick auf die USA eine eigenständige europäische Position fordert, halte ich für elementar. In den USA gibt es im nächsten Jahr Präsidentschaftswahlen mit der Wahrscheinlichkeit, dass ein Republikaner gewinnen wird, der die Unterstützung für die Ukraine zurückfahren wird. Unsere intellektuelle und politische Elite hat im Moment der Krise Europa nicht gestärkt. Das ist ihr Versagen. Die deutsche Politik hat nicht auf einen einzigen Vorstoß von Macron für ein einiges und eigenständiges Europa reagiert, also auch nicht auf seine vorherigen Initiativen. Die EU ist offenkundig zu groß geworden für den bestehenden institutionellen Rahmen und dadurch in ihren Entscheidungsprozessen weder ausreichend für die Bürger demokratisch legitimiert noch effizient. Das macht es den Gegnern Europas dann allzu leicht. Hinzu kommt, dass die deutsch-französischen Beziehungen auf dem Tiefpunkt sind, das ist ein Versagen gerade auch der jetzigen wie der vorherigen Bundesregierung. Ich habe Angst, dass unsere Generation dieses Europa verlieren, das unsere Väter und Mütter im wahrsten Sinne des Wortes auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs geschaffen haben. Noch eine oder zwei rechtspopulistische oder linksnationalistische Regierungen, dann ist Europa vollends gelähmt.

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