„Ein Wunderland“. Kermanis neues Buch.

„Ein Wunderland“. Kermanis neues Buch.

Es ist ein Roman, ein Sachbuch, ein Journal. Diese Trilogie schafft in einem großartigen Format ein Fest der Literatur in brillanter Sprache. Das sei vorangestellt, damit die Leserin und der Leser wissen, dass ab hier eine uneingeschränkte Würdigung dieses Werkes folgt, wenngleich eine nicht unbegründete.

Im Zentrum des neuen Buches von Navid Kermani steht eine namenlose Ich-Erzählerin. Der Schriftsteller hat sich in diese weibliche Perspektive begeben, um seiner männlichen Subjektivität in einer Art Verfremdung wenigstens teilweise zu entkommen. Dennoch finden wir selbstverständlich Parallelen zu ihm selber. Er lebt wie seine Hauptfigur in Köln, hat wie sie deutsch-iranische Wurzeln und ist ebenso bekannt wie intellektuell und ein geschätzter Literat und ein schätzender Literaturfreund.

Die Schriftstellerin schreibt im Jahr 2018 dieses Journal mit 365 Kapiteln in den vier Jahreszeiten, die mit dem Winter beginnen. Der Besuch am Grab der Mutter, die kürzlich gestorben ist, steht am Anfang, und schon auf der zweiten Seite werden wir mit der Frage „Was ist Trauer?“ konfrontiert. Der Tod der Mutter, die Trennung vom Mann, die schwere Krankheit des Sohnes, die Suche nach Identität, der Verlust an Lebensfreude provozieren die Frage, und die Antwort folgt auf der nächsten Seite: „Das ist Trauer, wenn das Glück, das es doch gibt, nicht mehr zu einem durchdringt. Du siehst es, es ist da, und du verbeugst dich davor oder schüttelst ihm die Hand wie einem Besucher am Grab, mehr aber auch nicht.“

Es ist so viel mehr als ein Trauerbuch, es ist eine geistreiche Reflexion, die den Zustand der Gesellschaft, der Politik, der kleinen und großen Welt, der Religion in den Notizen skizziert und mit aktuellen Bezügen beschreibt. Die Schriftstellerin holt sich erkenntnisreiche Rückendeckung in ihrem Bücherregal, dem sie ungelesene oder vergessene Werke für diese besondere Art des Dialogs entleiht.

Kermani hat mit dem Sprung in sein Bücherregal und dem Ende der Ignoranz gegenüber einem Teil seiner geordneten Literatur ein anregendes Kompendium erstellt. Die Liste mit Autorinnen und Autoren ist eine vorzügliche Leseempfehlung. Das Alphabet, in dem die Schriftstellerin bis zum Buchstaben „S“ kommt, serviert uns eine kaum fassbare Dichte und Fülle aus hoch kompetenter Quelle. Kermani lässt seine Hauptfigur schwärmen: „Es ist, als liefe ich durch ein Wunderland.“ Und: „Das ist ja eine Bibliothek, so gesehen ein Paradies, weil jede Erfüllung eine weitere verspricht, das Glück also unendlich ist.“

Trauerbuch. Literaturbuch. Und: Köln-Buch. Sie, die Frau in der Hauptrolle, er, der Schriftsteller als Autor dieses Buches, leben in Köln und formulieren den Lokalpatriotismus mit Humor, wenn es etwa heißt, an einem freundlichen Sommerabend mit wunderbarem Himmel sei Köln „für eine halbe Stunde die schönste Stadt der Welt“.

Natürlich ist das Buch politisch. Immer wieder spüren wir in Notizen die Freude an der Analyse und den Reiz an der Kritik. Stichworte sind die Zerstörung alter Strukturen, Nationalismus, ein schwaches Europa, die geopolitischen Veränderungen, die Protestideologien vor allem afrikanischer und asiatischer Länder. „Nicht der Reichtum, die Armut globalisiert sich“, lesen wir in einem Eintrag, und: „Die Welt ist nicht auf Europa beschränkt.“

Den Schweizer Schriftsteller Paul Nizon zitiert sie mit bemerkenswerten Sätzen aus dem Jahr 1973 zu der Frage, ob von Europa Abschied zu nehmen sei: „Ist es so, dass wir im Grunde genommen erinnerungskräftig in London und Paris traumwandeln, rückwärtsgerichtet? Lieben wir diese Städte schon als Antiquitätenliebhaber?“

Im Zentrum des neuen Buches von Navid Kermani steht eine namenlose Ich-Erzählerin. Der Schriftsteller hat sich in diese weibliche Perspektive begeben, um seiner männlichen Subjektivität in einer Art Verfremdung wenigstens teilweise zu entkommen. Dennoch finden wir selbstverständlich Parallelen zu ihm selber. Er lebt wie seine Hauptfigur in Köln, hat wie sie deutsch-iranische Wurzeln und ist ebenso bekannt wie intellektuell und ein geschätzter Literat und ein schätzender Literaturfreund.

Einer ihrer favorisierten Autoren, Julien Green, zitiert – sozusagen im Zitat – Victor Hugo, der das 18. Jahrhundert in dem Satz zusammenfasste: „Tisch eines langen Festmahls, an dessen Ende ein Schafott steht.“ Immer wieder Kriege – im Rückblick, und jetzt, mitten Europa, in der Gegenwart. Julien Green: „Was für ein grauenvoller Ort die Erde ist! Was für ein Wunder das Leben! Zwischen diesen beiden Einstellungen schlüpft der Mensch hindurch.“ Kermani schätzt Péter Nádas als einen der besten zeitgenössischen Schriftsteller. Über den Rechtsradikalismus sagt der Ungar 2018: „Italien sowieso, nicht erst heute, schon mit Berlusconi, nicht trotz, sondern aufgrund seiner Würdelosigkeit, seiner Gerissenheit, seiner Vulgarität geliebt. Jetzt in Amerika.“

Die Autorin kommt am 365. Tag bis zum Buchstaben „S“. Ihre Lesegruft ist eine Offenbarung, die Sensibilisierung auf die Rolle der Frau eine gewagte, aber gelungene Perspektive, und die außergewöhnliche Form des Buches besticht in eindrucksvoller Sprache als anregendes Zeitdokument. Navid Kermani präsentiert mit dieser großartigen Literatur über fast 600 Seiten eine ungewöhnliche Leseerfahrung.

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