Leben und Alltag in Aachen
Achim Ferrari, Bezirksbürgermeister in Aachen-Mitte, hat einen vorzüglichen Bildband über Aachen in den 80er Jahren erstellt. Es sind Fotos mit Menschen, Gebäuden, Straßen, Plätzen, mit Reitturnier und Alemannia, mit Hausbesetzungen und Studentenrevolte, mit Karlspreis und Wahlkämpfen, mit Freizeit und Volksfesten, mit Fabriken und mit gar nicht so romantischer Fassaden-Architektur. Ein Dokument seiner Zeit. Jetzt ist eine Auswahl seiner Bilder im Internationalen Zeitungsmuseum in der Aachener Pontstraße zu sehen. Ich hatte die große Freude, das Vorwort für dieses schöne Buch schreiben zu dürfen und heute im Internationalen Zeitungsmuseum über die Ausstellung sprechen zu dürfen.
Natürlich kennen Sie Achim Ferrari. Bezirksbürgermeister in Aachen-Mitte, Politiker der Aachener Grünen seit vielen, vielen Jahren und als Fotograf auch lange unterwegs für den Klenkes, zudem Diplom-Ingenieur der Architektur, Bau-Assessor und – ein Beweis für hohe Belastbarkeit – Technischer Beigeordneter in Alsdorf.
Diese Melange aus beruflicher, politischer und journalistischer Kompetenz ist die ideale Basis für das Schaffen jener abgebildeter Qualität, der wir in seinem Buch „Aachen in den 80er Jahren“ ebenso begegnen wie in dieser Ausstellung mit dem Titel „Leben und Alltag in Aachen“. Achim Ferrari präsentiert uns die Bühne des Anschauens, der Retrospektive und – je nach Geburtsjahr – des selbst Erlebten oder des neuen Kennenlernens jener Zeit. Es sind Ansichten und gleichermaßen Einsichten und letztlich gewiss auch Aussichten beim immer aktuellen Thema Urbanität, über das – wie wir alle wissen – dank Social Media in Aachen mehr denn je diskutiert, kommentiert, polemisiert, räsoniert, schwadroniert und hoffentlich auch informiert wird.
Die Ansichten. Sie sind Entdeckungen, Wiederentdeckungen, Dokumentationen, Emotionen. Sie regen unsere Mimik an – zum Lächeln, zum Wundern, zur Nachdenklichkeit. Sie bewegen uns. Und das ist das größte Kompliment für die Bilder und ihren Fotografen. Sie sind eine Hommage an eine Stadt, an eine Zeit, an ihre Menschen, ihre Befindlichkeiten, ihre Sorgen, ihre Fröhlichkeit, ihre Freude, ihre Distanz, ihre Unruhe, ihren Öcher Vermaach, ihren Protest, ihren Glanz, ihren verstaubten Mief. Was für ein Kaleidoskop!
Es handelt sich hier nicht nur um eine bloße nostalgische Rückwärtsgewandtheit, sondern wir werden konfrontiert mit einer im wahrsten Sinne des Wortes Stadtentwicklung. Wir sehen, was vor 40 Jahren war: Ruinen, Provisorien, Beton, viel Beton, Autos, viel Blech, natürlich Baustellen (mehr oder weniger als heute?), wir nehmen vielleicht sogar erschrocken die damalige Tristesse mancher Fassaden, Gebäude, Straßen, Plätze zur Kenntnis, die heruntergekommen und hässlich waren und völlig ohne jeden maroden Charme.
Wir sehen anregende Szenen: vom Katholikentag, wo zwei harte Biergartenbankreihen für die Holzklasse der Bischöfe reserviert waren, Weitere Motive: der Karlspreis, diverse Wahlkämpfe, Menschen, die feiern, etwa in der Königstraße, Menschen im Protest, die Häuser besetzen, die den Zoff wortwörtlich mit weißer Farbe auf die Fahrbahn des Templergrabens malen. Geschäftsstraßen, Werbung, Menschen auf und am Katschhof – vom federgeschmückten Schützengeneral bis zur Distanz wahrenden älteren Frau.
Die Einsichten. Vieles war anders, vieles überhaupt nicht besser, gar nicht die „gute alte Zeit“, manches offensichtlich gelassener, weniger aufgeregt, aber vor allem ganz beachtlich politisch, außerparlamentarisch – mit Widerstand, mit Demonstrationen, mit originellen Sprüchen, mit einem neuen Bewusstsein dafür, dass es so nicht weitergeht, dass die „Palliativpolitik“ des Immer-weiter-So nicht mehr fortsetzbar ist. Und damit sind wir mittendrin in der Jetzt-Zeit.
Die Aussichten. Aachen braucht mehr Selbstbewusstsein, mehr positive Aufbruchstimmung statt Laternengestaltungsdebatten. Sie braucht mehr Gespür für den Dialog, für wirkliche Streitkultur, für wirkliche Vision und daraus entstehender Zukunftsgestaltung. Aachen muss sich entscheiden: Liegt die Faszination vor allem im Alltäglichen oder doch im Besonderen; oder in Beidem, und wie kriegen wir das dann als Stadtgesellschaft gemeinsam hin? Welche Schätze können wir heben, welche Mentalitätsveränderungen sind dazu nötig? Und wer regt sie an, wer moderiert sie, wer organisiert sie, wer setzt sie in tatsächliche Politik um, wer macht aus Reallaboren attraktive, innovative Realität?
Anders gefragt: Über welche Bilder werden sich Ausstellungsbesucherinnen und –besucher 2050 freuen, wundern, reden? Aber noch ist es nicht so weit. Schauen wir uns erst mal diese beeindruckenden Bilder der aktuellen Ausstellung an.