Angela Merkel. Typisch.
Nun ist sie nicht mal mehr einfache Abgeordnete. Die Zäsur ist kompromisslos, klar, wohlüberlegt, entschieden. Typisch Angela Merkel.
16 Jahre Kanzlerinnenschaft sind nächste Woche zu Ende. Angela Merkel hat in diesem Amt etwas geschafft, das keinem der Männer vor ihr gelungen ist: freiwillig zu gehen. Konrad Adenauer wurde von seiner eigenen Partei und der FDP aus dem Kanzleramt katapultiert. Seinem ungeliebten Nachfolger Ludwig Erhard ging es nicht besser. Kurt-Georg Kiesinger verlor die Bundestagswahl gegen SPD und FDP. Willy Brandt musste auf Drängen der eigenen Leute zurücktreten. Helmut Schmidt wurde durch ein Misstrauensvotum gestürzt. Helmut Kohl unterlag gegen Gerhard Schröder und Rot-Grün.
Die Ära Merkel, geprägt von vielen vor allem internationalen Höhen und einigen vor allem innenpolitischen und innerparteilichen Tiefen, breitet vor uns in der Retrospektive ein beachtliches Spektrum aus: unbestechliche Souveränität, völliges Desinteresse am vermeintlichen Glanz der großen Inszenierung, internationale Klasse, nationales Zögern, fehlende Entscheidungsfreude – etwa in der Unterstützung des Europa-Manifests von Emmanuel Macron oder bei der Regelung ihrer Nachfolge in der CDU, zu große Entscheidungsfreude – etwa beim Atomkraft-Ausstieg mit der überstürzten Energiewende oder der Abschaffung der Wehrpflicht (jeweils ohne Parlamentsbeschlüsse!).
Merkel hat der Union gutgetan. Sie hat für CDU und CSU Wählerinnen und Wähler gewonnen, die nie zuvor im Leben ihr Kreuz bei den Konservativen gemacht hatten. Sie hat der Union geschadet, weil sie sich in den letzten Jahren nicht mehr um den Parteikram kümmerte und zuletzt von einer „ihr nahestehenden Partei“ sprach.
Sie bleibt ein beachtlicher und in der Gesamtbilanz ebenso erfolgreicher wie würdiger und einzigartiger Teil dieses Jahrhunderts. Sie hat Akzente gesetzt, die weit über den Tag hinaus reichen, auch, aber nicht nur weil sie die erste Frau in diesem Amt war und viel, viel länger blieb, als es irgendjemand 2005 vorausgesagt hatte.
Merkel hat Deutschland exzellent repräsentiert und mit ihrem internationalen Netzwerk, das in unterschiedlichsten emotionalen Facetten von Obama über Macron bis zu Putin reichte, hinter den Kulissen manches entschärft und vieles bewirkt. Ihre Persönlichkeitsentwicklung von der jungen DDR-Bürgerin über den demokratischen Aufbruch, ihren Eintritt in die CDU und ihre Karriere dort ist tatsächlich atemberaubend gewesen. Sie hatte offensichtlich nie Angst und immer einen Plan. Wie töricht waren angesichts dieser Eigenschaften die abfälligen Bemerkungen über „Kohls Mädchen“.
Zu diesen Eigenschaften gehört die ihr typische Hartnäckigkeit, mit der sie männliche Konkurrenten in der eigenen Partei ziemlich gnadenlos beiseite räumte, die sie aber auch auf dem EU-Parkett nicht nur andeutete. Sie hat in zahlreichen Krisen die kleinen und die großen EU-Staaten wieder an den gemeinsamen Tisch und zum Kompromiss gedrängt, oftmals, nicht immer, mit Erfolg. Mal mit sanftem, mal mit stärkerem Druck, mal mit Diplomatie, mal mit Klartext. Sie beherrscht beides.
Als Naturwissenschaftlerin sind ihr die vielfältigen Herausforderungen der globalen Gesellschaft stets präsent, aber politisch hat es von ihr zu selten langfristige Impulse gegeben. Neue Denkformen, neue Modelle, neue Prioritäten blieben in ihren allenfalls mittelmäßigen Kabinetten auf der Strecke. Die Chancen und Risiken der Informationsgesellschaft hat sie zwar gesehen, aber keine politischen Konsequenzen daraus gezogen. Das „Weiter-so“ stand in den letzten Jahren zu häufig auf den Aktendeckeln der Regierungspolitik. Und als Parteichefin hat sie der CDU kein Rezept verordnen können, wie eine moderne konservative Partei traditionelle und junge Milieus gleichermaßen für sich entdecken und erschließen kann. Die Konturen der Partei, deren Niedergang schon bei Helmut Kohl begonnen hatte, hat sie nicht geschärft. Und so endet ihr Abgang im personellen Desaster der Union.
Noch einmal: Die Gesamtbilanz ist verdienstvoll, mit zuweilen brillanten Highlights, und sie war sehr oft zur richtigen Zeit am richtigen Ort die richtige und vor allem unaufgeregt-sachliche Regierungschefin. Die meisten werden sie in individueller Form mehr oder weniger vermissen. Und das völlig zu Recht.
Ich hatte das große Glück, sie über viele, viele Jahre als Journalist erleben, treffen, sprechen zu können, auch schon lange, bevor sie Kanzlerin wurde. Jede Begegnung mit ihr war interessant, gelegentlich im kleinen Kreis sogar unterhaltsam, weil sie einen sehr feinen Humor und ein großartiges Talent zur Parodie hat, aber es war immer auch eine Herausforderung, eine anspruchsvolle und eine sehr seltene, weil sie in der Politik eine Persönlichkeit war und ist, über die man mit freundlicher Anleihe bei einem bekannten rheinischen Fußballclub sagen kann: spürbar anders.
Und nun soll es rote Rosen regnen. Alles Gute, Angela Merkel!
Foto oben: Georg Hilgemann