Der Verzicht auf den Rücktritt

Der Verzicht auf den Rücktritt

Die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey „verzichtet“ auf ihren Doktor-Titel. Verzichten kann man auf etwas, das einem gehört und es zurückgeben oder auf etwas, das man gar nicht haben will und deshalb erst gar nicht anstrebt. Ob also ein Verzicht in der Causa Giffey überhaupt möglich ist, darüber wird nun diskutiert. Und das ist nötig.

Also: Gehört ihr der Doktor-Titel? Antwort: noch. Er ist gefährdet; denn mit Schreiben vom 5. November 2020 hat der Präsident der Freien Universität Berlin Frau Giffey mitgeteilt, dass das Präsidium die am 30.10.2019 getroffene Entscheidung (Rüge) aufheben und den Vorgang erneut prüfen werde. Beleuchten wir dazu drei Rollen.

Rolle 1. Die Universität. Die Entscheidung neu zu prüfen kann man – zurückhaltend – als seltsam bezeichnen. Die FU hatte ein Dreivierteljahr geprüft und in ihrem Schlussbericht klipp und klar formuliert: „Die für gravierende Fälle von Wissenschaftsplagiaten charakteristische wörtliche Übernahme bzw. Umarbeitung von größeren Textteilen, die Übernahme von Daten bzw. Forschungsergebnissen oder die Übernahme origineller Gedanken bzw. Erkenntnisse konnten in der Arbeit von Frau Dr. Giffey nicht gefunden werden…und dass trotz der festgestellten Mängel nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden kann, dass es sich bei der Dissertation von Frau Dr. Giffey um eine eigenständige wissenschaftliche Leistung handelt.“ Eine „Entziehung des Doktorgrades wird nicht als verhältnismäßig bewertet“, teilte man der Ministerin damals mit. Thema erledigt.

Von wegen! Jetzt soll erneut geprüft werden. Warum? Welche bislang unbekannten Fakten sind jetzt vorhanden? Wer hat Beschwerde geführt? Welche neuen Erkenntnisse liegen der Entscheidung, die einer Revision gleichkommt, zugrunde? Oder war die erste Prüfung ähnlich schlampig wie die Prüfung der Doktorarbeit selber, die mit der Gesamtnote „magna cum laude“ bewertet wurde? Erst großes Lob, Jahre später eine massive Rüge: Wie passt das zusammen, sehr geehrte Professorinnen und Professoren, liebe Gutachter, Herr Präsident? Das würde man von Wissenschaftlern schon gerne wissen.

Rolle 2. Die Ministerin. Die Zeit drängt. Frau Giffey möchte sich am 27. November zur Spitzenkandidatin der Berliner SPD für die Senatswahl 2021 wählen lassen. Sie möchte Regierende Bürgermeisterin werden. Mit Verzicht hat das nichts zu tun, sondern mit Karriere-Planung. Karriere ist nichts Verwerfliches, sondern völlig normal. Aber Scheinheiligkeit im Gewand des Verzichts? Die Ministerin muss sich zudem an ihre Aussage vor einem Jahr erinnern lassen, als sie in einem Video-Interview mit Dr. Jan-Marco Luczak („jung & naiv“) auf die Frage, ob sie nach der Rüge ihren Doktortitel behalte, sagte: „Ich kann ihn auch gar nicht einfach irgendwie nicht führen, sondern der gehört zu meinem Namen.“ Tage vor dem entscheidenden Parteitag geht es plötzlich doch. Überzeugend ist das nicht.

Rolle 3. Die Berliner SPD. Franziska Giffey gilt als die einzige Hoffnung der ziemlich abgewirtschafteten Berliner Landes-SPD. Die genossenschaftliche Umklammerung wirkt ebenso intensiv wie verzweifelt. In solchen Situationen ist Solidarität das wichtigste Klebemittel. Und das wurde direkt als „großer Respekt“ am 13. November in die Umlaufbahnen von Twitter geschossen:

Bleibt noch ein erhellendes Klartext-Zitat eines SPD-Mitglieds. „Aber den akademischen Grad kann man gar nicht zurückgeben. Betrug oder kein Betrug ist die Frage!“ Es stammt von Björn Böhning aus Berlin, seit März 2018 Staatssekretär bei Hubertus Heil im Bundesministerium für Arbeit und Soziales.

Das Zitat ist schon älter (21. Februar 2011, 20:51, Twitter). Gemeint war damals auch nicht Frau Giffey, sondern Karl-Theodor zu Guttenberg. Doppelmoral nennt man das wohl. Oder  Vergesslichkeit. Oder beides. Das passt zu der seltsamen Dramaturgie, die Frau Giffey mit dem Verzicht auf ihren fälligen Rücktritt der Öffentlichkeit zumutet, mag sie noch so sympathisch sein. Sie hat sich selber in dieses Dilemma manövriert.

4 Gedanken zu „Der Verzicht auf den Rücktritt

  1. Hallo Herr Mathieu,
    Mir gefällt Rolle 1. Das trifft den Nagel auf den Kopf. 2 Prüfungen hat es in der Vergangenheit gegeben. Bei beiden wurde der Doktortitel bestätigt. Nun eine dritte Prüfung?
    Ich sehe das wie Frau Giffey, dann würde ich auch auf den Titel verzichten. Er wurde „verliehen“, dann kann man ihn auch zurück geben.
    Warum sollte sich ein Mensch das antun? Kommen nach der dritten Prüfung noch weitere? Sie hat sich gestellt und nach ihrer Doktorarbeit wurde eine zweite Prüfung vollzogen……. Ergebnis bestätigt.
    Nun wieder eine Prüfung? Nein, Danke.
    Recht hat sie, ob es jedem passt oder nicht.

  2. Frau Giffey hat nicht auf den Doktortitel verzichtet, sie hat darauf verzichtet, ihn jetzt und zukünftig zu führen!
    Das müsste einem erfahrenen Medienmann doch auffallen!

  3. Da sie selber den Titel gar nicht zurückgeben kann, bezieht sich der Verzicht natürlich aufs Führen des Titels, eine andere Möglichkeit hat sie ja formell nicht. An ihrer politisch motivierten Entscheidung zum Verzicht ändert das nichts. Das sehen übrigens auch viele andere „erfahrene“ Medienleute so.

  4. Hallo Bernd!
    Ich finde Frau Giffey grundsätzlich sympathisch und auch politisch kompetent, sicher auch eine positive Person der SPD! Jetzt geht es aber um eine Gleichbehandlung der Politiker. Vor einigen Jahren mussten Karl-Theodor zu Guttenberg und Anette Schavan ihre Doktortitel zurückgeben und sogar aus ihren Ämtern ausscheiden, mal gespannt, was jetzt passiert. Sie könnte ja später, wie Guttenberg es gemacht hat, einen neuen Doktortitel erwerben!

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