Die Einheit. Klar: Wir wissen alles!

Die Einheit. Klar: Wir wissen alles!

Klar. Wir wissen alles. Über die Ostdeutschen. Die Ossis. Die Jammerlappen. Die Unzufriedenen. Vor allem: die Undankbaren. Den Osten haben wir, die demokratischen Westdeutschen, abgehakt. Abgeurteilt. Ab in die Tonne! Wo ist nur die Mauer geblieben? Richtig: Niemand hat die Absicht, wieder eine Mauer zu bauen. Jedenfalls keine aus Beton. Aber andere Mauern gibt es natürlich noch immer oder schon wieder. In den Köpfen, in den Mentalitäten, in den Vorurteilen, in den undifferenzierten Verallgemeinerungen.

Es kann einem unwohl werden, 30 Jahre danach. Subventionen, Marktwirtschaft und superkluge Besserwessi-Sprüche haben nicht ausgereicht. Schon schnell gab es westdeutsches Kopfschütteln über die Erfolge der PDS und der Linken, jetzt erst recht über die der AfD. Stolz und Selbstachtung, Wertschätzung und Selbstbewusstsein, Haltung und Respekt sind in vielen Lebensentwürfen ehemaliger DDR-Bürgerinnen und –Bürger getilgt worden. In den Ergebnissen diverser ostdeutscher Landtagswahlen  erkennen wir also auch Fehler der deutschen Einheit. Die demokratische und unblutige Revolution in der DDR war eine klassische Basis-Bewegung mit einer für Deutschland ungewöhnlichen Wucht an Mut und Gestaltungswillen. Diese Dynamik, diese Energie – sie blieben viel zu schnell nach der Wiedervereinigung auf dem Müllhaufen der leeren Versprechen liegen. Eine verpasste Chance und ein Zeichen ziemlicher Überheblichkeit – made in Germany. Was könnte Deutschland erreichen, wenn seine Menschen sich auch heute öfter von dieser Erfahrung, dieser Freiheitserfahrung, inspirieren ließen!

46 Prozent der AfD-Wähler in Brandenburg sagen, sie hätten im Leben weniger, als ihnen gerechterweise zustehe. In Sachsen fühlen sich 51 Prozent der Wähler (und nur 29 Prozent der Wähler anderer Parteien) benachteiligt, und 70 Prozent der AfD-Wähler meinen: „Die Ostdeutschen werden behandelt wie Bürger zweiter Klasse.“ Doppelt so häufig machen sich qualifizierte Facharbeiter im Osten Sorgen um ihren Arbeitsplatz im Vergleich zu ihren Kollegen im Westen (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung). In Sachsen werden nur 39, in Brandenburg 45 Prozent der Beschäftigten nach einem Tarifvertrag bezahlt, in Westdeutschland sind es 57 Prozent. Laut einer Befragung von Infratest Dimap treibt 84 Prozent der sächsischen AfD-Wähler die „Sorge, dass sich unser Leben zu stark verändert“.

Ist der Westen ignorant und der Osten verkannt? Es wäre in den Debatten viel gewonnen, wenn der moralisierende Ton durch eine sachliche Analyse ersetzt würde: unaufgeregt und  ohne die üblichen Worthülsen, die eine bestimmte Spezies von Repräsentanten aus Politik und Gewerkschaft, aus Unternehmerverbänden und Medien in die Umlaufbahnen der Demagogie befördern. Ja, Fakt ist: Der Westen hat Milliardenbeiträge in die Infrastruktur, in die Rentenkassen und andere Bereiche gepumpt, um den Rückstand im Osten zu verringern. Die Neue Züricher Zeitung schreibt dazu: „Es war ein Kraftakt und ein Ausdruck von Solidarität, die in Europa ihresgleichen sucht. Aber noch immer liegt das reichte Bundesland im Westen und das ärmste im Osten.“ Und weiter: „Die Reaktion der Ostdeutschen auf so viel Ignoranz ist antrainiert. Die Diktatur erzwang Schizophrenie im Denken und Reden: Was man öffentlich sagte, stimmte nicht mit den privaten Äußerungen überein. Man schuf sich seinen Schutzraum in der Familie und mit Freunden. Heute gilt Meinungsfreiheit; jeder kann im Rahmen der Gesetze sagen, was er will. Die Bundesrepublik lässt sich nicht mit der DDR vergleichen. Allerdings findet die Meinungsfreiheit unter den Bedingungen eines als übermächtig empfundenen westdeutschen Diskurses statt. Das bringt wieder manchen zum Verstummen. Die Stimme für die AfD ist ein Ventil für die Schizophrenie auch im neuen Deutschland.“

Der östliche Vergleichsmaßstab ist nach 30 Jahren Einheit leider zu selten der traurige Zustand des ökonomisch und ökologisch erledigten Arbeiter- und Bauernstaates im November 1989. Hinzu kam das unselige Agieren der Treuhand, die den Geschäftemachern aus dem Westen Tür und Tor öffneten für ihre (Un)Taten in den neuen Bundesländern: Ex-DDR als höchst willkommenes Beutestück.

Dirk Neubauer, ein erfolgreicher Bürgermeister in Augustusburg, einer Kleinstadt in Sachsen, schreibt in seinem bemerkenswerten Buch „Das Problem sind WIR“: „Dieser lähmende Makel liegt noch heute wie Mehltau über dem Land. Es bewegt all jene, die mit dem Regimewechsel nicht das erhielten, was sie sich erträumt hatten. Dieses Gefühl entstand damals und überlagerte vieles, bekam ein festes Fundament, das tatsächlich bis heute hält.“

Noch heute regiert in vielen Regionen eine gefühlte Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit, der Mangel an Fachkräften ist im Osten noch weit dramatischer als im Westen. Dirk Neubauer, erst parteilos, seit drei Jahren Mitglied der SPD: „Was wir momentan im Osten Deutschlands erleben, ist eine Folge aus Missachtung von Lebensleistungen, entrückter Politik, überbordender Regelwut und Ignoranz gegenüber einer anderen, sich noch findenden Gesellschaft. Was hier gerade passiert, fiel nicht einfach so vom Himmel. Es ist das Ergebnis eines langen und schmerzhaften Prozesses voller Missverständnisse, gegenseitigen Desinteresses, einseitiger Sprach- und beidseitiger Gehörlosigkeit, politischer Fehler und der Arroganz des Überlegenen, aber auch der stetig zunehmenden Unfähigkeit, Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Vor lauter Bekümmertheit haben wir verlernt, unsere Interessen zu vertreten. Und das betrifft alles von uns … Leider fällt das momentane politische Beben in eine Zeit, in der Fakten oft nichts und Inhalte noch weniger zählen und in der das Meckern auf der bequemen Couch mehr wiegt als mühsames Verändern.“

Für etwas zu sein, ist anstrengend. Auch bei uns im Westzipfel. Begeistern wir uns für unsere Stadt oder bejammern wir nur noch Zustände, die uns immer mehr an Verkommenheit als an Glanz erinnern? Machen wir mit – für etwas? Sagen wir, was wir tun müssen, nicht, was wir vielleicht tun könnten? Das muss uns doch etwas wert sein; denn wir haben, wenn wir es denn wollen, immer noch eine starke Zivilgesellschaft. Wer unterdessen unverdrossen in den üblichen Kategorien von Kandidatenaufstellungen, Wahlplakaten und langweiligen Pro-forma-Bürgerforen agiert, verliert den Anschluss. Und zu viele in den Parteien denken, auch jetzt nach der Kommunalwahl: Es wird schon wieder werden. Nichts wird wieder so werden. Und das ist gut so.

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