Der Mann, der unbedingt in Marxloh leben will.

Der Mann, der unbedingt in Marxloh leben will.

Der stellvertretende Bezirksbürgermeister Claus Krönke kümmert sich um den berüchtigten Stadtteil auf ungewöhnlich positive Art. Eindrücke aus Duisburg. Foto: bm

Duisburg. „Was macht ihr hier?“ Das klingt nicht freundlich. Lapidare Erwiderung: „Wir schauen uns den Stadtteil an.“ Die Frage kommt aus dem Mund eines vielleicht achtjährigen Mädchens. Die Antwort von Claus Krönke, 52 Jahre alt.

In Marxloh herrscht Skepsis, wenn Menschen an einer, formulieren wir es so: wenig einladenden Immobilie auftauchen, die nur gucken. Marxloh, dieser Stadtteil, der angeblich rechtsfreier Raum ist, tickt anders: seine 20.879 Einwohner, seine Akteure, seine Alten, seine Jungen, seine Arbeitenden, seine Arbeitslosen, seine Alteingesessenen, seine Deutschen, seine Migrationshintergründigen, seine Asylbewerber, seine illegal hier Lebenden. Über allem schweben Wolken: die der Kriminalität, der Clans, der Gewalt, der No-Go-Area, des Zusammenhalts, der Kümmerer, der Desinteressierten und in jede Richtung: die der Vorurteile. Da hilft nur, sozusagen als erste Maßnahme: selber hingehen.

Häuserzeile I: Straße in Marxloh
Häuserzeile I: Straße in Marxloh

Mit Claus Krönke als Stadtteilführer ist man gut aufgestellt. Der Sozialdemokrat, einziges Mitglied aus dem Stadtteil Marxloh in der 17-köpfigen Bezirksvertretung Duisburg-Hamborn, kennt sich aus und viele Menschen hier ­– vom Senior in einer von glückseligmachenden MSV-Duisburg-Altärchen geprägten Kneipe über vornehme Inhaberinnen eines der über hundert Brautmodengeschäfte auf der „Hochzeitsmeile“, die korrekt Weseler Straße heißt, bis zu Balwinder Singh Saini, einem Inder, der ein Geschäft für alles und jeden führt und es „Hi-Life-Collection“ nennt. Krönke (SPD) wurde vor fünf Jahren stellvertretender Bezirksbürgermeister, der Bürgermeister gehört der CDU an und ist bei Stimmengleichheit per Losentscheid ins Amt gekommen. „Sehr exotisch“, sagt Krönke. Der CDU-Junge mache seine Sache „richtig gut“, lobt der Sozi, das Verhältnis sei freundschaftlich.

Mehr Mülleimer zum Beispiel

Krönke fordert auf seiner Facebook-Seite die Marxloher auf, ihm  Dinge zu nennen, die verbessert werden können. Du meine Güte – was für eine Sisyphos-Arbeit! Was meinen Sie konkret damit, Herr Krönke? „Mehr Mülleimer zum Beispiel.“ Für ihn zählen offensichtlich auch kleine Sachen. In Marxloh soll es über 80 wilde Müllkippen geben. Vor allem Roma aus Rumänien und Bulgarien sollen massenweise Essensreste auf die Straße und in Gärten werfen. Die Folge: jede Menge Unrat, katzengroße Ratten, erbärmlicher Gestank. Ist das mit ein paar Mülleimern in den Griff zu kriegen? „Nee“, sagt Krönke. „Aber wenn schon an einer Kreuzung, wo zeitweise 150 Menschen stehen, mal ein Mülleimer aufgestellt würde: Das wäre der erste Teil der Linderung des Problems.“

Herr Krönke, Sie behaupten, es gebe in diesem Mikrokosmos von Deutschen, Türken, Libanesen, Marokkanern, Irakern, Bulgaren, Rumänen und vielen anderen, keine No-Go-Area, keinen rechtsfreien Raum. Pardon, ganz weg reden kann man das Thema doch nicht!

Häuserzeile II: Straße in Marxloh
Häuserzeile II: Straße in Marxloh

„Nee, aber die Frage ist auch: Würden Sie mit Ihrem minderjährigen Kind zu einem Spiel Fortuna Düsseldorf gegen MSV Duisburg gehen, wo Sie wissen, dass es da Schlägereien gibt und die Fans hinterher Züge auseinandernehmen? Das ist eigentlich eine No-Go-Area.“ Sie vergleichen negativ mit negativ. „Ja, die Mechanismen sind aber die gleichen. Wenn Fortuna gegen MSV spielt, gibt es doppelt so viel Polizei. Die müsste es hier auch geben.“

Was ist wahr, was unwahr? Prüfen wir es!

Behauptung 1: Familienclans beherrschen ganze Straßen.

Krönke: „Nein. Sie beherrschen ein Geschäft, aber nicht die Straße.“

Behauptung 2: Das Stadtviertel gehört zu den ärmsten in Deutschland.

Krönke: „Das stimmt.“

Behauptung 3: Hier herrscht die höchste Arbeitslosigkeit.

Krönke: „Wir sind zweigeteilt. Businessmäßig sind wir garantiert mit der reichste Stadtteil in ganz Duisburg wegen der Brautmoden- und Juweliergeschäfte. Die Tresore dort sind teilweise wie Fort Knox. Und natürlich wegen der Firmen, die hier ansässig sind, zum Beispiel die Grillo-Werke. Aber die normale Arbeiterschicht ist verarmt.“

Fassade mit Trinkhalle
Fassade mit Trinkhalle

Behauptung 4: Es gibt hier überdurchschnittlich viele verwahrloste Familien.

Krönke: „Stimmt. Ich habe gerade für einen Freund, der abgeglitten ist, die Wohnung leergemacht. Das waren keine angenehmen drei Tage. Wir müssen uns mehr mit den Hintergründen beschäftigen. Dieses Messietum und die verwahrlosten Familien haben immer mit Lebenssituationen zu tun. Wenn sich solche Situationen verändern, verbessert sich auch der Zustand. Das wäre mit einem flächendeckenden Beschäftigungsprogramm in den Griff zu kriegen. Die Leute müssten frühmorgens aufstehen und arbeiten, das hat auch mit Anerkennung ihren Kindern gegenüber zu tun. Das dauert leider wahrscheinlich Jahre.“

Behauptung 5: Es gibt eine extrem hohe Zahl an Gewaltexzessen.

Krönke: „Ja. Ich habe hier von der Mentalität her das ganz einfach gestrickte Publikum. Wo wir einen Konflikt mit Worten austragen würden, gibt es in diesen Gruppen eins auf die Schnauze. Das ist ein Teil dieses Arbeitermilieus. Zwischen Ethnien hat man das hier eher selten.“

Behauptung 6: Straßenkreuzungen sind unsichtbare Grenzen zwischen ethnischen Gruppen.

Krönke: „Ja, aber nicht mehr wie in den 80er Jahren, da war es weitaus schlimmer. Es ist nicht so wie ein abgesperrter Bereich. Wir haben hier das ärmste Viertel in Marxloh, da ziehen die Zuwanderer hin, dann gibt es das bourgeoise Viertel um die Kreuzeskirche, Marxloh ist in fünf Teile aufgeteilt, aber es nicht so, dass es eine kurdische, eine rumänische oder eine libanesische Straße gäbe.“

Treffpunkt für MSV-Fans: Kneipe in Marxoh.
Treffpunkt für MSV-Fans: Kneipe in Marxoh.

Behauptung 7: Polizei und Behörden sind überfordert.

Krönke: „Ja. Wenn ich ein Kind antiautoritär erziehe und ihm irgendwann voll vor die Glocke haue, dann versteht es das nicht. Wir haben hier über Jahre Zustände wachsen lassen mit einer Integrationspolitik nach dem Motto ,Wir haben uns alle lieb, alles ist toll’, dann merkt man plötzlich, dass es doch nicht toll ist und holt die Keule raus. Das ist im Moment die Überforderung der Polizei.“ In nur einem Jahr gab es in Marxloh über 400 Einsätze mit mehr als nur einem Streifenwagen. Bei einem Notruf kommt die Polizei generell nicht mit nur einem Auto. Krönke: „Alleine aus Selbstschutz, weil sich hier sehr viele Menschen um den Tatort drängen. So entsteht eine solche Statistik.“

Die meisten bleiben.

Marxloh ist ein Ankunftsstadtteil. Einige Einwohner, denen das stinkt, gehen, die meisten bleiben. Die Zahl an Zuwanderern verschiedener Nationen wächst, der Ausländeranteil hat die 60-Prozent-Marke längst überschritten. Auch hier passt wieder der Begriff der Sisyphos-Arbeit, des Immer-wieder-von-Vorne-Anfangens. „Richtig“, sagt Krönke. Schleicht sich nicht allmählich ein Gefühl der Resignation ein für einen seit Jahren ehrenamtlich engagiert Arbeitenden? „Manchmal hat man ein solches Gefühl. Man steht einer Front von Gesetzen und Verordnungen gegenüber, wo man sagt: Schieb’ das mal alles weg, betrachte die reale Situation. Und dann wird in der EU Irgendetwas durchgezogen, von dem man schon am Anfang weiß, dass es im richtigen Leben nicht funktioniert. Das erzeugt Frust. Andererseits: Ein Ankunftsstadtteil ist etwas Positives, weil ich einen abgegrenzten Raum habe, den ich managen kann. Ankunftsstadtteil bedeutet nicht nur, dass Leute ankommen, sondern da steht ja ein Konzept dahinter.“

Auch das ist Marxloh mit einem exzellenten Musicshop
Hier geht Musik ab! Auch das ist Marxloh mit einem exzellenten Musicshop

Welche Chance zu managen hat Krönke in dieser Melange aus Clans, Gewalt, Verwahrlosung, Armut? „Clans managen nichts, die machen ihre Geschäfte“, antwortet er ausweichend. „Die sind garantiert sehr illegal. Die Jungs wollen nicht an die Öffentlichkeit, ganz anders als bei einer Straßenschlägerei. In dem Moment, in dem ihre Geschäfte an die Öffentlichkeit kommen, funktionieren sie nicht mehr. Da ist es die Aufgabe von Polizei und Staatsanwaltschaft reinzugehen.“ Welche Geschäfte sind das? „Drogen, Prostitution, Schutzgelderpressung, das Übliche…“

Schweres Gepäck an Vorurteilen

Was für ein Stadtteil. Was für ein stellvertretender Bezirksbürgermeister, der regelmäßig Rundgänge anbietet, weil er sich aufgeregt hat über Facebook-Einträge von Leuten, die nicht in Marxloh wohnen und doch eine feste Meinung haben. Die hat er eingeladen. Und sie kamen, ausgestattet mit dem schweren Gepäck an Vorurteilen und einem subjektivem Angstgefühl. Typische Reaktion von Teilnehmern nachher: „Wohnen möchte ich hier nicht, aber es ist doch anders, als ich dachte.“

Stimmengewirr, Menschen, die nicht so aussehen wie du und ich, andere Mechanismen: die Hochzeitsmeile mit den teuren Brautmoden- und Juweliergeschäften, die architektonisch aufwendige Zentrale der Grillo-Werke gegenüber auf der anderen Straßenseite, Trinkhallen, Dönerbuden und schicke Restaurants zum Beispiel in einem teuer restaurierten Kino, deutsche, türkische, bulgarische, indische Läden und Märkte, hübsche alte Bürgerhausfassaden und schrecklich vermüllte Hinterhöfe: Marxloh ist eine völlig andere Welt als die, die wir gewohnt sind. „Was macht ihr hier?“, hat das Mädchen gefragt.

Über 100 Brautmodengeschäfte gibt es auf der Weseler Straße, deshalb „Hochzeitsmeile“ genannt. Sie sind elegant, teuer und haben Kunden aus aller Welt.

In Schrottimmobilien mit solchen Hinterhöfen werden kinderreiche Familien untergebracht, die hier teilweise regelrecht verwahrlosen.

Auch das ist Marxloh, ein Stadtteil der Gegensätze: Schicker Eingangsbereich zu einem Restaurant in einem ehemaligen Kino. Alle Fotos: bm

Der Text erschien zuerst in Aachener Zeitung/Aachener Nachrichten, danach in der NRZ (Neue Ruhr Zeitung, Neue Rhein Zeitung, Essen) und in den Westfälischen Nachrichten (Münster)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert