Mitten in Aachen. Ein klares „Trotzdem“

Mitten in Aachen. Ein klares „Trotzdem“

Die Aula Carolina liegt mitten in Aachen, im alten Aachen, im historischen Aachen, in Kaiser Karls Aachen. In der Pontstraße.

An diesem 3. Oktober, dem Tag der Einheit unseres Landes, an jenem Tag, der früher uneingeschränkt gefeiert wurde und der heute unabhängig von den aktuellen Einbrüchen in unseren Alltag mit viel Skepsis, Misstrauen, Argwohn, zuweilen sogar mit Ablehnung desavouiert wird, steht an der Bühne der Ausstellung Ralph Metzenmachers Bild mit dem Porträt von Michail Gorbatschow. Das ist natürlich kein Zufall, da Stephan Kaußen, der Initiator dieses extraordinären einwöchigen Events in Bild, Wort und Musik, es genau da – da ganz vorne, da unübersehbar, da angestrahlt – platziert hat. Wo es hingehört, weil es sich wenigstens heute so gehört.

Die deutsche Einheit kann niemand ernsthaft ohne den Namen Gorbatschow erwähnen, beschreiben, erklären. Ohne ihn, diesen großartigen, mutigen, letztlich sogar selbstlosen Menschen gäbe es kein Deutschland, wie wir es heute kennen und wie wir es vor allem schätzen sollten. Und deshalb hat dieser Tag eben mehr von einem Fest als von irgendeiner zu bekrittelnden Fügung.

Corona, die Flutkatastrophe, der Krieg in der Ukraine, die galoppierende Inflation im nunmehr zweistelligen Bereich, die Explosion der Energiepreise, die putinsche Drohung mit Atomwaffen: Diese so unsichere und seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gekannte diffuse Perspektive unserer nahen Zukunft ist über uns innerhalb von zwei Jahren mit unvorstellbarer Wucht hereingebrochen. Sie verleiht unserem Alltag ein mulmiges Gefühl der Fremdheit, der Irrealität, des Absurden, und sie hat die Wahrnehmung unseres Lebens verändert, als habe man uns von unseren Wurzeln getrennt.

Wir spüren einen befremdlichen Riss in unserer bisher sicher geglaubten Existenz bürgerlicher Vorzüge wie: Wohlstand, soziale Sicherheit, europäische Solidarität, immerhin das mehrheitliche Bemühen um Kultur, Werte, Anstand, die ständige Anstrengung für gesellschaftliches Miteinander. Und bei manchen hatte das zu einer fahrlässigen Gleichgültigkeit geführt in diesem Rund-um-Sorglos-Paket einer trotz aller Macken funktionierenden Demokratie.

Und was hatten und haben wir an dieser Demokratie, an ihren Politikerinnen und Politikern, ihren Medien,  ihren Wirtschaftsbossen auszusetzen – oft zu recht! An den Defiziten in der Klimapolitik, in der Bildung, in der Digitalisierung, in der Mobilität, in der Bürgerbeteiligung, in den fehlenden Antworten etwa auf die bedrohlichen Herausforderungen der Demografie. Aber das wird zurzeit überlagert von immer mehr Störungsmeldungen in der uns vertrauten Organisation unseres Staates. Die politische und ökonomische Stabilität unserer Epoche nach dem Kalten Krieg und das beruhigende Gefühl, unsere Demokratie werde sich immer wieder gegenüber autoritären Strömungen durchsetzen, sind nun einer Desillusion gewichen, wie wir zuletzt in Italien bitter erfahren mussten.

Die fatale Anhäufung von Gegensatzpaaren wie Nation und Migration, Intoleranz und Regenbogenkultur, Wahrheit und Verschwörungstheorie vergiftet unsere westlichen Gesellschaften, und die Krisen, die Ungewissheiten, die Ängste sind der fruchtbare und furchtbare Nährboden für die Melonis, le Pens, Orbans. Nur noch 37 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in den ostdeutschen Bundesländern halten die Demokratie für die geeignetste Staatsform. Dieses verwirrende Phänomen ist mehr als nur eine Unebenheit auf dem Boden der modernen res publica. Sie ist eine Erschütterung und eine Umwälzung unserer Grundlagen.

Im Gespräch mit Michail Gorbatschow 2008 anlässlich der Verleihung der Martin-Buber-Plakette  Es folgte ein langes Interview. Foto: M. Jaspers

Michail Gorbatschow. Jemand wie ihn brauchte man heute da in Moskau. Aber auch das bleibt natürlich nur eine kühne Fantasie. Die Moral des Individuums, das Engagement einer entschlossenen, mutigen und zuversichtlichen demokratischen Gesellschaft gerade in schwierigen Zeiten, kurzum das entschiedene „Trotzdem“ – sie bleiben dennoch die einzige Antwort in diesen Zeiten.

Wie schön, dass es diesen 3. Oktober in der Aula Carolina mit einem 45-minütigen Gespräch, das ich mit Stephan Kaußen führen durfte, gegeben hat. Die Ausstellung „Carolinger Calling“ mit Bildern von Ralph Metzenmacher und Regina Bock geht weiter, noch bis zum 9. Oktober, Pontstraße 7, Aachen. Infos unter www.retroviews.de

Fotos: Stephan Kaußen, Prospekt; Michael Jaspers

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