„Dann gibt es keine chronischen Krankheiten mehr“

„Dann gibt es keine chronischen Krankheiten mehr“

Harald Schmidt ist nicht zurückhaltend, er liebt den Klartext, und den schreibt er auch. Schon der Untertitel seines Buches kommt wie ein scheinbar schlagzeilenverliebtes Plakat daher: „Warum die Medizin am Ende ist“ – da steht jedoch noch kein Punkt; denn der Aachener Autor, Professor für Pharmakologie und personalisierte Medizin an der Universität Maastricht,  lässt uns mit  seiner aufrüttelnden Botschaft nicht alleine und fährt fort: „…und wie unsere Gesundheit eine Zukunft hat“. Beides, Analyse wie Prognose, sind Inhalt dieses Buches „Geheilt statt behandelt“.

Schon auf den ersten Seiten begegnen wir Aussagen, die zu hinterfragen Pflicht ist. Zum Beispiel: „Die Behandlung durch den Arzt ist ohne Aussicht auf Heilung.“ Wie bitte? Das müssen Sie erklären, Herr Professor Doktor Schmidt! Sind denn die meisten Ärztinnen und Ärzte inkompetent, wollen Sie sich mit all denen anlegen? Harald Schmidt: „Nein, sagen wir es so: Die Medizin ist inkompetent. Der große Teil der Ärztinnen und Ärzte ist ja willens, das Beste für den Patienten möglich zu machen, aber wenn die Medizin nicht so viel hergibt, dass wir jede Erkrankung auch wirklich verstehen, sondern nur an Symptomen herumdoktern können, dann ist keine Heilung möglich.“

Das Gesundheitssystem setze zudem im Moment falsche Anreize. „Das bestätigen mir viele Kliniker und niedergelassene Ärzte. Sie müssen möglichst schnell viele Patienten durchschleusen. Der ideale Patient ist der chronisch kranke, der kommt regelmäßig, aber stirbt nicht.“

Kein Geisterfahrer. Nicht zuletzt durch die intensive Beschäftigung mit den Inhalten seines Buches habe er seine „gesamte wissenschaftliche Arbeit komplett umgekrempelt“. War er auf dem falschen Weg? „Ich war auf dem Weg, den Universitäten vorgeben und für Karrieren messen: möglichst viele Veröffentlichungen in Top-Zeitschriften und viele Forschungsmittel. Aber ich will später nicht als Endergebnis meines beruflichen Lebens sagen: Ich habe zwar viel Papier bedruckt, für Patienten allerdings  ist nicht viel dabei heraus gekommen.“ Schmidt ist begeistert von der innovativen Netzwerkwissenschaft, die systemische Zusammenhänge herstellt und erklärt, gerade auch in der Medizin. „Da habe ich verstanden: Wie wir getrennt nach Organen Krankheiten definieren, wie wir forschen, das ist komplett falsch. Sehr clevere Leute, etwa an Havard in Boston und am Karolinska-Institut in Schweden denken genau so, und wir haben nicht das Gefühl, Geisterfahrer zu sein.“

Nur acht Risiken von Fehlverhalten lösten den Großteil chronischer Erkrankungen aus: unzureichender Schlaf; zu viel Stress beziehungsweise mangelnde Fähigkeit, Stress zu vermeiden oder damit umzugehen; zu wenig körperliche Fitness; ungesunde Ernährung; übermäßiger Alkoholkonsum; Rauchen; Nichtnutzung medizinischer Angebote und Vorsorgeeinrichtungen. Lediglich das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein dieser medizinischen Angebote und Vorsorgeeinrichtungen stehe außerhalb des persönlichen Einflusses von Menschen. Hinzu kommen Umweltfaktoren, etwa der Unterschied zwischen der Luftqualität auf dem Land oder an einer viel befahrenen innerstädtischen Straße.

Die Gentherapie. Harald Schmidt beschäftigt sich intensiv mit den Erfolgen der Gentherapie. „Man kann davon ausgehen, dass alle schweren durch ein einziges Gen verursachten Erkrankungen in zehn Jahren heilbar sind. Das wird eine Revolution geben.“ Für Schmidt steht fest, dass es auch für alle anderen Erkrankungen zu einem gewaltigen Innovationsschub und einer neuen Medizin kommen müsse und werde. „Dann wird in interdisziplinären Systemmedizin-Teams geforscht und praktiziert, beides mit massiver Unterstützung durch maschinelle Lern-Algorithmen: So verstehen wir bald mehr und mehr die genauen molekularen Ursachen von Krankheiten sowie mögliche Auslöser oder Verstärker. Wir werden Krankheiten früher erkennen oder sogar verhindern, dass jemals Symptome auftreten.“ Dadurch gebe es keine chronischen Krankheiten mehr, sondern nur chronische Risiken, die präzise im Zaum gehalten oder – mit Gentherapie – sogar geheilt werden könnten.

Die Datenvielfalt. Die gigantische Datenvielfalt sei eines der Kernelemente der neuen Medizin. „Die Digitalisierung wird die Medizin radikal verändern. Echte Prävention und Diagnostik werden zum großen Teil durch künstliche Intelligenz übernommen und dadurch sicherer und präziser. Wenn wir uns all dem öffnen, warten schon jetzt ungeahnte Möglichkeiten auf uns, Gesundheit ganz neu zu denken.“

Zur Person

Der in Aachen lebende Prof. Dr. Dr. Harald Schmidt ist 62 Jahre alt und seit 2010 Professor für Pharmakologie und personalisierte Medizin an der Universität Maastricht. Schmidt ist einer der Pioniere der „Systemmedizin“ und dokumentiert in dem Buch an zahlreichen Beispielen, wie die Digitalisierung die Medizin revolutionär verändern wird.

Eckart von Hirschhausen schreibt anlässlich des neuen Buches über den international renommierten Aachener Wissenschaftler: „Harald Schmidt ist ein Pharmakologe, der weit über den Tellerrand schaut und dessen Visionen einer präventiven und patientenorientierten Medizin mich immer wieder inspirieren.“

Das neue Buch „Geheilt statt behandelt“ ist im Plassen-Verlag erschienen, hat 432 Seiten und kostet 19,90 Euro.

Dieser Text ist in voller Länge auf einer Spezialseite von Aachener Zeitung und Aachener Nachrichten am 26. Mai 2021 erschienen.

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