Die Eintrittskarte.

Die Eintrittskarte.

Mit ihm ins Gespräch zu kommen, hat immer seinen Reiz. Michael Wolffsohn ist ein analysierender Publizist, ein hochgebildeter Historiker, ein meinungsfreudiger und durchaus streitbarer politischer Kopf. Diese intellektuelle und auch polarisierende Vielschichtigkeit findet ihren Platz in seinen Büchern und Essays, in Talkrunden im Fernsehen und an Podien, in Vorträgen. Zwei dieser Reden (eine gehaltene und eine ungehaltene) bilden den Schwerpunkt seines aktuellen Buches „Nie wieder? Schon wieder!“ über alten und neuen Antisemitismus.

Wir sprechen über sein Buch, ein wegen der Aktualität schnell veröffentlichtes und in der Länge mit 96 Seiten überschaubares Werk, ein bemerkenswertes Zeitdokument. Es kommt ohne falsche Rücksichten aus. Ob das allen passt? Kaum. Und das ist die Stärke seiner Aussagekraft.

Antisemitismus als Eintrittskarte.

Im Buch heißt es: „Schon wieder ist Antisemitismus die Eintrittskarte in die europäische Gesellschaft. Auch in die deutsche. Machen wir uns nichts vor: Antisemitismus gehört in weiten Kreisen, freilich nicht in allen, zum guten Ton. Schon wieder.“

Wer ist diese Gesellschaft, wen und was meinen Sie damit?

Wolffsohn: Das ist ein breites Spektrum, kein rein deutsches Problem, sondern ein Problem der christlich und postchristlich sowie der islamisch geprägten Welt. Solange es Christen im Sinne des praktizierenden Christentums gab, kam die traditionelle Judenfeindschaft zum Tragen. Mit der Säkularisierung, der Entfernung der westlichen Gesellschaften von der Religion, wurde der rassistische Anti-Judaismus dominant bis hin zum tragischen Höhepunkt des sechsmillionenfachen Judenmords. Das wiederum bedeutet, dass niemand, ob christlich oder postchristlich säkular geprägt, dem jüdischen Thema und damit auch dem israelischen gegenüber indifferent sein kann.

Die christlich-deutsche Welt hat daraus die Konsequenz gezogen, dass Gewalt niemals mehr ein legitimes Mittel der Politik sein darf. Umgekehrt ist die Opfer-Schlussfolgerung aus der Geschichte genau umgekehrt: Dass Gewalt notwendig ist, um überhaupt überleben zu können. Diese beiden Weltsichten stoßen aufeinander. Wir haben a) die traditionelle Judendistanz, b) das schlechte Gewissen, die Unsicherheit, c) die Gewissheit, die richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen zu haben, und umgekehrt hat die Opferseite die aus ihrer Sicht richtigen Schlussfolgerungen ebenfalls gezogen. Das bedeutet, dass die beiden Königskinder nicht zusammenkommen und den Dialog der Taubstummen führen.

Pro-palästinensische und anti-israelische Demonstrationen gibt es nicht nur in Deutschland, auch etwa in Frankreich und in den USA.

Wolffsohn: Innerhalb der Diaspora-Judenheit ist eine Spaltung seit den 70er Jahren eingetreten. Die eindeutige Unterstützung Israels gibt es nicht mehr, weil die israelische Palästinenser- und Außenpolitik sehr umstritten ist. Um die Distanz der nichtjüdischen Gesellschaft zu überwinden, setzen sehr viele Juden auf diese Eintrittskarte nicht nur in die europäische, sondern auch in die bürgerlich-akademische und Kultur-Gesellschaft. Auch in den Vereinigten Staaten. Um dazu zu gehören, ist Anti-Israelismus inzwischen bei den jüngeren amerikanischen Akademikern Teil des vermeintlich guten Tones.

 Die Sicherheit.

Michael Wolffsohn zweifelt in seinem Buch nicht an der Schutzwilligkeit des deutschen Staates, aber an seiner Schutzfähigkeit. Das habe, so sagt er auf Nachfrage, weniger mit den Juden alleine zu tun, als vielmehr mit der Sicherheitspolitik im Allgemeinen – nach innen und nach außen. „Da ist ein Stichwort die Bundeswehr, über deren Zustand weiß inzwischen jedermann Bescheid. Eine dramatische Vernachlässigung seit der Ära Merkel, auch schon unter Rot-Grün und, wenn man so will, nach der Wiedervereinigung mit der Illusion, nur noch von Freunden umgeben zu sein.“

Und die innere Sicherheit?

Wolffsohn: Es ist ein sympathischer Ansatz, dass der deutsche Staat ganz anders als der NS-Staat sein will, Gott sei Dank! Das bedeutet den totalen Gegensatz zum Terrorstaat. Aber hier hat man das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Wenn man eine wehrhafte Demokratie durchsetzt, heißt das ja noch lange nicht, dass man einen Polizeistaat nach innen aufbaut. Die Distanz zum traditionellen staatlichen Gewaltmonopol ist offensichtlich und stößt in weiten Teilen der Gesellschaft auf erhebliche Distanz. Das stimuliert Extremisten jeglicher Couleur, sich in Deutschland zu betätigen, weil das relativ risikolos ist. Manche machen sich über diesen Staat und seine nicht vorhandene Wehrhaftigkeit lustig.

Das stärkt ganz offensichtlich die AfD. Ein Versagen der demokratischen Parteien?

Wolffsohn: Es ist nicht nur ein Versagen der Parteien, sondern ein Versagen der Gesellschaft, die Wirklichkeit als Wirklichkeit anzuerkennen, weil es für Gegenmaßnahmen ideologisch, ethisch und historisch bedingte Schwierigkeiten gibt. Es ist völlig richtig, Menschen in Not zu helfen, aber alles Fremde ins Land zu lassen und nur von einem ausschließlich positiven Menschenbild auszugehen, ist zwar sympathisch, aber leider unrealistisch. Wenn die Demokratie nicht wehrhaft ist, ist sie hoch gefährdet.“

Reden und Phrasen.

Michael Wolffsohn hat am 9. November 2023 in einer vielbeachteten Rede vor dem Berliner Abgeordnetenhaus zum 85. Jahrestag der Reichskristallnacht gesprochen. Den ersten Entwurf hatte er vor dem Hamas-Terror vom 7. Oktober geschrieben,  danach verfasste er eine neue Rede. Beide sind im Buch dokumentiert. Wolffsohn kritisiert darin auch „Rituale, Platten und Plattitüden, gedankenlos vorgetragene Gedenk-Substanz“ deutscher Rednerinnen und Redner. „Phrasendrescherei und Gedenkrituale entfremden die Zuhörer.“

Was machen deutsche Politiker falsch bei ihren Gedenkreden?

Wolffsohn: Man merkt es schon an der Körpersprache, da wird ohne jede erkennbare innere Erregung gesprochen. Ein Gegenbeispiel war die eindrucksvolle Video-Botschaft von Robert Habeck. Da merkt man: Der Mann bebt geradezu. Das Wort ist die Person. Und das ist der Unterschied zwischen Papier und Persönlichkeit.

Bildung und Wettbewerb.

„Der Staat muss handeln“, fordert Michael Wolffsohn. Bildung ist für ihn in Deutschland eine „desolate Landschaft“. Kann der Staat angesichts unserer föderalistischen Strukturen überhaupt handeln? „Natürlich“, antwortet Wolffsohn spontan. „Föderalismus ist ja auch Wettbewerb, nicht zuletzt in der Bildungs- und Kulturpolitik. Wenn man sich jedoch wechselseitig in gesteigerter Niveaulosigkeit übertrifft, dann ist das die falsche Entwicklung. Aber selbst Elite-Universitäten in den Vereinigten Staaten, in England, auch in Frankreich haben ähnliche Defizite. Bessere Ausbildung heißt nicht unbedingt die Fähigkeit, die gesellschaftliche Wirklichkeit richtig zu taxieren.“

Es sei eine Wunschvorstellung, dass die Addition von Wissen im Alltag zu einem veränderten Verhalten führe. „Klassisches Beispiel sind die deutschen Hochschullehrer, die 1933 mit fliegenden Fahnen zu Adolf Hitler übergingen. Oder Mao Tse-tung, ein gebildeter Mann, der ein Millionenmörder war, Pol Pot, Lenin. Addiertes Wissen ist nicht Herzensbildung. Wenn wir uns die Soziologie der Menschen anschauen, die Verfolgten im Dritten Reich oder auch sonst geholfen haben, dann sind das eher bildungsferne ökonomische Unterschichten gewesen.“

Die Lage in Israel.

Und die aktuelle innenpolitische Situation in Israel?

Wolffsohn: Netanjahu und der Likud sind in der Wählergunst weit abgeschlagen. Der zentristische Kandidat Gantz liegt mit großem Abstand vorne. Es gibt im Likud – schon vor dem 7. Oktober – Kräfte, die am Stuhl von Netanjahu sägen aus der realistischen Einschätzung heraus, dass mit Netanjahu der Likud auf absehbare Zeiten keine Mehrheiten und keine Koalitionspartner bekommen könne. Netanjahu wird eher kurz- als mittelfristig abgelöst werden. Das ermöglicht eine breite Koalition der Vernunft, worunter ich auch verstehe, dass die extremistisch-chauvinistischen nationalreligiösen Kräfte nicht der neuen Koalition angehören würden. Das wäre innerisraelisch ein Segen und auch für das Diaspora-Judentum, das sich durch die Judaisierung des israelischen Staates im orthodoxen Sinne von Israel distanziert hat.

Die EU schlägt seit langer Zeit die Zwei-Staaten-Lösung vor.

Wolffsohn: Dafür sehe ich keine Chance. Welcher israelische Politiker oder israelische Bürger wäre bereit, einen zweiten Palästinenser-Staat als neuen Terror-Staat zu akzeptieren? Einfach die Vokabel „zwei Staaten“ hinzuwerfen, reicht nicht. Soll der militarisiert sein? Und wer würde die Kontrolle  übernehmen, wenn das nicht der Fall ist? Die UNO hat immer wieder als Kontrolleur versagt, nicht nur im Nahen Osten. Die Bundeswehr? Die Amerikaner? Die Franzosen und die Engländer sind auch nicht scharf darauf,  die arabischen Staaten sind gespalten in ihrer Loyalität, also bleibt letztlich nur wieder Israel übrig. Man sollte mit Jordanien, dessen Bevölkerung zu 80 Prozent palästinensisch ist, eine föderative Lösung anstreben  – mit dem Westjordanland und dem Gazastreifen und dann einen Staatenbund mit Israel. Das sind realistische Möglichkeiten. Wenn mir Politiker entgegenhalten, das sei nicht realistisch, entgegne ich: Realistisch ist die jetzige Realität. Und die bedeutet Mord- und Totschlag.

Dieser Text ist am 29. Februar 2024  in der Aachener Zeitung erschienen.

Foto: Homepage Michael Wolffsohn

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